Der kretische Frühling ist kühl und zwischendurch regnet es. Es ist eine Zwischenzeit, in der emsig gehämmert, gemalt und geputzt wird. Dieses Jahr soll es endlich wieder mehr Touristen geben. Dafür arbeitet das ganze Städtchen.
Nur die eine nicht. Die Träumerin. Die alte Kreterin.
Von meinem Balkon aus, blicke ich auf die unendliche blaue Weite. Tag und Nacht begleitet mich das laute Meeresrauschen. Sätze, Bilder und Gedanken werden verschlungen vom tosenden Geräusch.
Es ist keine liebliche Ecke hier und auch etwas ausserhalb des touristischen Zentrums. Jeden Tag blicke ich von oben auf den kleinen Kieselstrand, um sie zu sehen.
Die Frau ist klein und zäh, ihre Haut von der Sonne ledrig. Sie erinnert mich an eine alte Ziege, die mit dem spärlichen kretischen Gras zufrieden ist. Am frühen Morgen richtet sie sich würdevoll, mit achtsamen Bewegungen ein. Sorgfältig breitet sie ihre Tücher aus und legt sich hin, eingerollt macht sie sich unsichtbar. Den ganzen Tag verbringt sie schlafend und träumend. Und das Tag für Tag.
Abends trinkt sie ein paar Handvoll Meereswasser, wäscht sich das Gesicht und benetzt die Haare. Sie hat sich, wie alle hier, um die Oliven gekümmert.
Die anderen alten Frauen des Städtchens umgeben sich mit ihrer Sippe. Oder sie sitzen draussen, kaffeetrinkend und beäugen mich, die etwas flippige Touristin. Sie sind hier unsicher über meine Herkunft und ich werde griechisch angesprochen.
Nicht aber von der alten Kreterin. Die schaut direkt und wissend in meine Seele.
Meine Kreterin ist für sich und sie hat gelernt zu beobachten: Das Vieh, die Natur, die Kinder, nichts ist ihren alten Augen entgangen. Jetzt sind diese müde und sie will sie geschlossen halten, den ganzen Tag. Trotzdem nimmt sie mich wahr und spürt wohl, wenn ich sie beobachte, denn sie stellt nun eine ihrer Taschen schützend vor den Kopf.
Sie ist keine arme Frau, das erkenne ich daran, dass die Stoffe auserlesen sind. Jetzt, wo sie sich im Meer wäscht, nehme ich ihre runden Hüften und ihre schaukelnden Brüste wahr. Mit jedem Tag wird sie mir vertrauter und ich ihr ähnlicher. Wir sind Einzelgängerinnen, das Meer und das Leben liebend und auf eine eigensinnige Art frei. Schon möglich, dass die Einheimischen etwas distanziert sind. Sich aus der Tradition zu lösen, braucht Mut und Stolz. Denn das wird nicht gerne gesehen hier.
Was gibt es besseres, als den ganzen Tag am Meer zu verbringen? Sie hat ja keinen grossen Haushalt mehr, der Mann verstorben, die Kinder ausgewandert. Sie hat so viel Zeit zur Verfügung. Während sie hier ist, scheint sie nichts zu sich zu nehmen. Doch der Bohneneintopf mit Lamm steht vorbereitet auf dem Herd. Jetzt drapiert sie ihre Tücher und macht es sich wieder zwischen den Kieselsteinen bequem. Dazu muss sie sich etwas hin und her bewegen, so dass die Steine im Sand einsinken. Die Bewegung ist kurz und bewusst. Es gibt kein Zuviel, nicht an ihr und nicht an ihren Handlungen.
Im Gegensatz zu mir, die ich immer aufs Meer schaue, trägt sie es in sich. Aber sie braucht die Meeresmusik und einen guten Ort, um für immer einzuschlafen.
Eingerollt wie ein Kätzchen würde man sie schnell finden. Am Rande dieser Touristenwüste. Aufgeräumt hat sie längst, dies hier ist ein idealer Platz. Zum Verweilen, zum Träumen und zum Abschiednehmen von einem arbeitsamen und entbehrungsreichen Leben. Wenig Ansprüche und Wünsche trug sie in sich. Aber diesen einen, ihr restliches Leben zu träumen – davon kann sie niemand abhalten.
Embody your Purpose
& Transform Lives!
4 Kommentare
Die Meer-Träumende hat sich mir ebenfalls eingeprägt.
Danke dafür, und weiterhin inspirierenden Aufenthalt.
Und etwas ganz Merkwürdiges ist passiert: die Einfachheit dieser Frau und ihr Stolz, im besten Sinn des Wortes hat mich ganz ruhig werden lassen. Auf einmal kam mir das Sterben nicht mehr wie eine zu verhindernde Katastrophe vor.
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